Montag, 4. Mai 2020

Schrecken

Im Wynethaler lese ich die Zeilen eines Pfarrkollegen, der eine kleine Geschichte über den Schrecken schreibt.

Jeder Mensch hat einen Schrecken, die Menschen halten ihn sozusagen als ihr Haustier. Die einen haben einen kleinen Schrecken, andere haben einen grossen Schrecken. Es sind unansehnliche Haustiere, man könnte vor ihnen erschrecken. Und so verbergen die Menschen sie lieber voreinander. Die Schrecken begleiten die Menschen im Leben - und sie haben eine Eigenschaft: sie können nur wachsen, nicht kleiner werden. Viele Menschen tun so, als hätten sie keinen Schrecken; aber jeder weiss, dass alle ein solches Haustier bei sich haben.

Ich fand die Geschichte sehr passend zur aktuellen Lage. Durch die Massnahmen, die über Nacht eingeführt worden waren, ist einfach deutlicher als sonst sichtbar geworden, dass wir Menschen erschrecken können.

Schrecken - das ist etwas Plötzliches, auch etwas, das wieder vorbeigehen sollte. Sobald wir wissen, wer oder was uns erschreckt hat, sollte der Schrecken wieder kleiner werden. Insofern bin ich nicht ganz damit einverstanden, dass Schrecken nur wachsen können. In der Traumabehandlung geht man davon aus, dass Schrecken auch verblassen können.

Mir kommt eine Aussage von Dietrich Bonhoeffer in den Sinn. Er stellt fest, dass ein Mitmensch Angst zeigte und schreibt: Ich frage mich, ob die Angst nicht auch zu den Pudenda gehört. - Will heissen: ob man sich seiner Angst nicht schämen und sie besser verbergen sollte...

Angst scheint mir noch etwas Tiefergreifendes als Schrecken zu sein. Sie ist langwierig, kann ohne aktuellen Anlass in einer Menschenseele sein. - Wenn die Angst erkannt und benannt wird, kann man ihr begegnen. Deswegen meine ich, dass über Aengste vermehrt gesprochen werden sollte. Auch und gerade in der jetztigen Weltlage.

Der Autor der Schrecken-Geschichte meint nämlich auch: Die Menschen müssen zusehen, dass sie einen Schrecken haben - und nicht umgekehrt. Dass der Schrecken nicht zu viel Macht über ihr Leben gewinnt.

Ich wünsche Ihnen einen unerschrockenen Monat Mai!



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