Freitag, 29. Mai 2020

Normal

Normal - steht oben bei der Schriftart. Das Wort "normal" hat in den letzten Tagen eine neue Bedeutung bekommen, jedenfalls in meinen Ohren.

Normal ist irgendwie das, was ich gewohnt bin. Wäre ich in einer Kultur aufgewachsen, in der sich die Leute zur Begrüssung vor dem andern verneigen und dazu die Hände wie beim Beten zusammenhalten, wäre das für mich ganz normal.

Ist es jetzt normal, eine Schutzmaske zu tragen, oder doch nicht? Haben Sie sich bereits an das Bild gewöhnt?
Ist es normal, dass wir einander die Hände nicht mehr reichen zur Begrüssung? Aendert das etwas in den Beziehungen der Menschen zueinander?

Irgendwie hat das Wort "normal" etwas Technisches an sich. Meint es doch: Einer Norm entsprechend. - Als ich heute die Menschen Revue passieren lasse, die ich kenne, wird mir klar: Da entspricht keiner einer Norm. Jede und jeder hat seine Eigenheiten. Zum Glück, würde ich sagen.



Wenn ich ein Unwort des Jahres 2020 wählen dürfte, es wäre das Wort: "Neue Normalität". Ja wer sagt mir denn, was normal ist? Wer gibt eigentlich vor, was Menschen zu glauben, zu denken und zu fühlen haben?

Da regt sich in mir der reformierte Geist: Reformiert sein, selber denken!

In diesem Sinne ermutige ich jede und jeden von Ihnen, selber zu denken und zu beurteilen, was für Sie zur Norm gehört und was nicht. Und selber mitzuentscheiden, in welche Zukunft wir gehen werden.

In diesem Sinne Pfingstliche Grüsse

Ihre Pfarrerin Sonja Glasbrenner

Mittwoch, 13. Mai 2020

Meinungen

Liebe Leserin, lieber Leser

Ja, wenn wir die Wahrheit wüssten...
Ich bin ein Mensch, der Wert darauf legt, dass Aussagen mit dem, was geschehen ist, übereinstimmen, und dass der Wahrheitsgehalt einer Forschungsstudie richtig angegeben ist.
Aber wie kann das ein Laie überprüfen?

In den letzten Wochen hat mich dieses Thema ständig begleitet. Den Kritischen unter Ihnen ist es sicher auch so gegangen. Wenn wir mehr Hintergründe erfahren würden, besser informiert würden, könnten wir das, was weltweit geschieht besser einordnen.

Es gibt Menschen, die für eine transparentere Informationspolitik Mahnwachen im öffentlichen Raum halten. - Und es gibt solche, die sich über diese Menschen empören.

Auf einem blog stand eine bemerkenswerte Erkenntnis:

Jedes Ding hat drei Seiten - die Seite, die ich sehe, und die Seite, die du siehst.
Und eine Seite, die wir beide nicht sehen.



Ich fand es ermutigend, dass jemand so denkt! Wer sich bewusst ist, dass er nur eine Seite einer Entwicklung sieht, verliert an Sicherheit. Aber er kommt der Wahrheit näher.
Wer weiss, dass seine Erkenntnisfähigkeit begrenzt ist, lässt sich eher darauf ein, seinen Horizont zu erweitern.
Wer weiss, dass der andere mit demselben Recht die Sache anders sieht, wird dialogbereit.


Montag, 4. Mai 2020

Schrecken

Im Wynethaler lese ich die Zeilen eines Pfarrkollegen, der eine kleine Geschichte über den Schrecken schreibt.

Jeder Mensch hat einen Schrecken, die Menschen halten ihn sozusagen als ihr Haustier. Die einen haben einen kleinen Schrecken, andere haben einen grossen Schrecken. Es sind unansehnliche Haustiere, man könnte vor ihnen erschrecken. Und so verbergen die Menschen sie lieber voreinander. Die Schrecken begleiten die Menschen im Leben - und sie haben eine Eigenschaft: sie können nur wachsen, nicht kleiner werden. Viele Menschen tun so, als hätten sie keinen Schrecken; aber jeder weiss, dass alle ein solches Haustier bei sich haben.

Ich fand die Geschichte sehr passend zur aktuellen Lage. Durch die Massnahmen, die über Nacht eingeführt worden waren, ist einfach deutlicher als sonst sichtbar geworden, dass wir Menschen erschrecken können.

Schrecken - das ist etwas Plötzliches, auch etwas, das wieder vorbeigehen sollte. Sobald wir wissen, wer oder was uns erschreckt hat, sollte der Schrecken wieder kleiner werden. Insofern bin ich nicht ganz damit einverstanden, dass Schrecken nur wachsen können. In der Traumabehandlung geht man davon aus, dass Schrecken auch verblassen können.

Mir kommt eine Aussage von Dietrich Bonhoeffer in den Sinn. Er stellt fest, dass ein Mitmensch Angst zeigte und schreibt: Ich frage mich, ob die Angst nicht auch zu den Pudenda gehört. - Will heissen: ob man sich seiner Angst nicht schämen und sie besser verbergen sollte...

Angst scheint mir noch etwas Tiefergreifendes als Schrecken zu sein. Sie ist langwierig, kann ohne aktuellen Anlass in einer Menschenseele sein. - Wenn die Angst erkannt und benannt wird, kann man ihr begegnen. Deswegen meine ich, dass über Aengste vermehrt gesprochen werden sollte. Auch und gerade in der jetztigen Weltlage.

Der Autor der Schrecken-Geschichte meint nämlich auch: Die Menschen müssen zusehen, dass sie einen Schrecken haben - und nicht umgekehrt. Dass der Schrecken nicht zu viel Macht über ihr Leben gewinnt.

Ich wünsche Ihnen einen unerschrockenen Monat Mai!